Lars Lotter
Einer geht durchs Haus!


Einer geht durchs Haus! Ich erinnere mich noch gut daran, es war zu einer Zeit, als die Zigaretten noch stark, das Bier noch billig und die Frauen noch bereit zu einem intensiven Gespräch über Gefühle waren. Es war irgendwann in den 90er Jahren, als einmal mehr die fünfte Jahreszeit, d.h. die Pfingstwanderung begangen wurde. Wie so oft war eben jene Wanderung auch von Strapazen, Entbehrungen und Erschöpfung gekennzeichnet. Genauso fehlten allerdings keinesfalls die uns alle konsolidierenden Aspekte der Freude, Trunkenheit (ob der schönen Natur und der Ausschüttung von Endorphinen durch körperliche Höchstleistung am Limit) sowie die Erschaffung und Etablierung von sinnstiftenden Sprüchen und Redewendungen geradezu biblischen Ausmaßes. In jenem Jahr gewann für uns alle – so darf ich sagen – das Bekenntnis ‚einer geht durchs Haus’ an so existentieller Bedeutung, daß weder unsere politischen Ansichten, noch unsere Angst vor Feuer die gleiche blieb. Tradition ist wichtig und gibt uns Halt in dieser rasanten, verstörenden Welt. Die Tradition besagt bis heute, daß am Ende eines langen, erschöpfenden Wandertages die nächstliegende Dorfkneipe aufzusuchen sei, um Kontakt zu der in der jeweiligen Gegend lebenden Urbevölkerung aufzunehmen und sich mit ihren Sitten und Gebräuchen bekannt zu machen sowie um sich mit Hilfe frisch gebrauter Hefeelektrolytgetränke zu belohnen und zu regenerieren. Der zufällige alkoholische Charakter dieses vergorenen Powerdrinks bringt – und die muß gerade zur Warnung aller Jugendlichen gesagt werden – gewisse sekundäre Ausprägungen mit sich: von Unbeholfenheit über ausgelassene Fröhlichkeit bis hin zu einem ordentlichen Realitätsverlust. Und so waren auch die drei übrig gebliebenen Gestalten jenes schicksalhaften Abends - als da waren: Martin P. und Sönke B. aus Sth. sowie ich, als ein den beiden zugeneigter, selbst – erfüllt vom Glauben an das gute im Menschen und die Existenz christlicher Werte. Besonders angetan hatten es uns die Konzepte der gebergpredigten sozialen Gerechtigkeit und speziell das Motto ‚liebe deinen Nächsten wie dich selbst’. In dieser besinnlichen Stimmung versuchten wir den zuständigen Dorfschenk von unserer Botschaft zu überzeugen: „Mensch komm her, jetzt geht aber mal einer aufs Haus!“ Ich muß betonen, es ging uns nicht darum, einfach nur umsonst einen Schnaps zu bekommen, nein, es ging uns ums Prinzip. Und da waren wir starrköpfig und störrisch wie die Freikirche. Sollte es auch kosten was es wollte, wir wollten den – zumindest ungläubig schauenden – Wirt von unsrer Botschaft überzeugen. Wenn ich es noch richtig in Erinnerung habe, dann war vor allem Sönke von diesem Sendungsbewußtsein erfüllt, so daß der Satz, einer geht aufs Haus dann auch in großer Zahl und Dichte fiel und selbst auf andere Gäste einhagelte. Natürlich kam es, wie es kommen mußte: Wie so viele Heilsverkünder unserer Tage hatten auch wir wenig Erfolg mit unserem Bemühen ein paar Seelen zu retten und noch einen Tropfen abzubekommen. Im Bewußtsein, unser Bestes getan zu haben, zogen wir trotz alledem recht beschwingt und taumelnd von dannen. Bewaffnet mit einer Gaslampe stapften wir ruhigen Gewissens durch die dunkle Nacht zurück zu unserem Basislager. Naja, und wie Männer nun mal so sind, wenn sie an Bäumen vorübergehen, war es bald auch bei uns soweit. Wir sollten nicht, wir wollten nicht, wir mußten mal. Durch das gemeinsame Bemühen im Laufe des Abend nähergekommen hatten wir Angst uns aus den Augen zu verlieren und so zogen wir es vor, unser Geschäft zusammen und im schützenden Licht der Gaslampe zu verrichten („Wo immer drei in meinem Namen versammelt sind ...“), hat diese Tradition ja eigentlich auch Timo S. aus Sth. bereits in früheren Jahren eingeführt – aber das ist eine andere Geschichte. Wenn ich mich wirklich daran erinnern könnte, hätte ich das Bild sicher heute noch vor Augen. Die Gegebenheiten unserer Heimkehr werden in zwei verschiedenen Versionen überliefert, die ich hier der Fairneß halber beide anführen möchte: Martin, Sönke und ich waren der festen Überzeugen, auf Zehenspitzen in unser Nachtlager geschlichen zu sein und uns ganz leise hingelegt zu haben, mit dem festen Vorsatz, keinen der schon schlafenden Wandergefährten zu wecken. Böse Zungen behaupten nun, daß wir drei mit einem solchen Getöse in die uns zur Verfügung gestellte Scheune gebrochen seien, daß es selbst den erschöpften Hengst, der jeden Abend einer benachbarten Stute aus züchtungstechnischen Gründen zum Liebesspiel bereitstehen mußte, nicht ruhen ließ. Zudem seien wir – d.h. eigentlich nur Martin – mit der brennenden Gaslampe schwankend die brüchige Leiter zum Heuboden hinaufgeklettert. Es sei ein Wunder, daß es zu keinem flammenden Inferno gekommen sei. (Hätten wir die Lampe ausgemacht, hätten sich wieder welche beschwert, weil wir in die falschen Schlafsäcke gestiegen wären. Manchen Menschen kann man es eben niemals recht machen Ich selbst wasche meine Hände selbstredend in Unschuld, ich habe nur einer guten Sache dienen wollen und der mit der Lampe, das war Martin. Schließlich heißt es seitdem ja auch: Einer geht durchs Haus. („Liebe Leute, ich muß euch sagen: Ich hab’ ganz schön zugeschlagen.“)